Wer wissen will, was Mars und Kurzschrift miteinander zu tun haben könnten, der sollte weiter lesen.
Im letzten Monat waren wir ja in der SLUB. Deren Leiter erwähnte bei diesem Anlass u.a. den digitalisierten einzigen Roman von Friedrich Eduard Bilz, dem Radebeuler Naturheilkundler, Gründer des gleichnamigen noch heute bestehenden Bades mit Wellenmaschine und Erfinder der weithin bekannten Sinalco-Limonade. Das Werk trägt den Titel „In hundert Jahren“, ist also ein Zukunftsroman. Da ich meine Kindheit in einer Zeit hatte, die zukunftseuphorisch war – der Urlaub auf dem Mond im Jahr 2000 war für mich eine Selbstverständlichkeit –, haben mich utopische Bücher schon immer gereizt. So habe ich mir die PDF – da nun für alle frei verfügbar - heruntergeladen und angefangen, die 1200(!) Seiten zu überfliegen und stieß u.a. auf überraschende Bezüge zu unserem Fachgebiet.
Veröffentlicht wurde der Roman im Jahr 1907 und die Handlung beginnt – mathematisch nicht ganz korrekt – im Jahr 2048. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um die optimistische Projektion der Vorstellung, dass die Naturgesundheitslehre, die Bilz maßgeblich vertrat, den Siegeszug in einer vereinigten Welt im Frieden unter Leitung einer Zentralregierung angetreten hat. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wurden gelebt, was auch die zwischenmenschlichen Beziehungen – ein Stichwort ist hier „Eheirrung“ – recht entspannt machte.
Aus heutiger Sicht muss man gerade im Hinblick auf die technische Entwicklung manchmal schmunzeln, zum Beispiel, wenn die hochentwickelte Rohrpost als Wunderwerk angesehen wird. Aber das ist fast immer das Schicksal solcher Voraussagen.
Andere Dinge werden wohl auch nicht in 35 Jahren erreicht sein, beispielsweise die Einführung einer weltweiten Einheitssprache und – man lese und staune – einer Einheitskurzschrift als einzige verwendet Schrift. So heißt es auf S. 108: „Ganz besonders deshalb waren es grauenvolle Zeiten,“ versetzte Lister, „weil durch das Lernen mehrerer Sprachen, sowie auch durch das Schreiben der langstieligen Kurrentschrift usw. die Lernenden geistig sehr überbürdet und dadurch schon frühzeitig nervös gemacht wurden. Hätte man sich schon damals einer einzigen Sprache und einer stenografischen Kurzschrift allgemein bedient, wie dies heute der Fall ist, dann hätte sich schon allein aus diesem Grunde die große Zahl der nervösen Menschen sicher um die Hälfte verringert …“
Spannend wird es dann – nun kommt der Mars ins Spiel -, als es gelingt, telegrafisch Kontakt zu den Bewohnern unseres Nachbarplaneten aufzunehmen. Hier wurden die Signale als Wellen auf Papier gezeichnet, und man stand vor der schweren Aufgabe, diese zu entziffern. Auch hier war für den Verfasser – man erlebte ja eine Blütezeit stenografischer Systeme – alles klar. Deshalb liest man auf S. 131: „Vielleicht stenographieren unsere Brüder auf dem Mars,“ meinte John Lister lächelnd. „Wenn ihre Kultur auf der Höhe der unsrigen steht, so besitzen sie natürlich eine allgemein angewendete Kurzschrift,“ bemerkte hierzu der Archäologe. „Sapperlot!“ rief der Urgreis aus. „Ich bin neugierig, ob die irdische Kurzschrift, wie sie jetzt in Gebrauch ist, Ähnlichkeit mit der martischen besitzt.“
Weiter geht’s auf S. 134: „Hier ist der Apparat … hier die Relaistafel mit den eigenartigen maritschen Schriftlinien!“ rief van der Moelen. „Eine Depesche der Marsleute!“ stieß erregt der erste Präsidentschaftssekretär Nejgen hervor, als er das Geschnörkel auf der Tafel erblickte. „Zweifellos eine Kurzschrift,“ ließ sich ein zweiter vernehmen.
Und abschließend zu diesem Problem steht auf S. 138: „Hm – natürlich handelt es sich hier um eine Kurzschrift,“ sagte der Physiker und ließ seine Augen wieder über die Kurvenlinien der Tafel gleiten. „Eine Kurzschrift …?“ frug Nejgen. „Wenn man bedenkt, daß der Mars um viele Millionen Jahre älter ist als die Erde, so ist man zu der Annahme entschieden berechtigt, daß die martische Kultur der irdischen weit voraus ist …“
Natürlich gelingt die Entzifferung und der Weltenverbrüderung mit telegrafischen Mitteln steht nichts mehr im Wege.
Nebenbei werden auch die Vereinfachungen der Druckverfahren durch die Kurzschrift hervorgehoben und es wird sogar ein Stenografiesystem namentlich erwähnt (S. 527): Wie einfach sind dagegen unsere Stenographier-Systeme! Selbst da, wo man in denselben noch jetzt die Unterscheidung von „hart“ und „weich“ behalten hat, kennt man nur ein Alphabet und für den Konsonanten b bezw. p braucht man z. B. in der Arendsschen Stenographie für Druck und Schrift nur nachstehende zwei Typen:
Alles in allem ist der Roman – die eigentliche Handlung ist nicht der Rede wert – ein teils amüsanter, teils langatmiger Einblick in die Zukunft von gestern. Die Blütenträume bezüglich der Stenografie sind nicht gereift, aber vielleicht bleibt uns der Mars ja noch als Hoffnungsschimmer am Abendhimmel …